Eßentielle Zwischenräume in Mensch und Musik
Das Auftragen von Schminke - Verdeckung oder Entdeckung, Zwang oder Befreiung? Terre Thaemlitz mit einer elektroakustischen Installation zu gesellschaftlichen Zwischenräumen ("Interstices") auf Mille Plateaux.
- Martin Böttcher
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In Popkomm, January 2001.
Terre Thaemlitz beleuchtet auf seinem neuen Album "Interstices" die Riße in den Selbstverständlichkeiten der Gesellschaft. Mit seiner anti-eßentialistischen Haltung zeigt er dem Hörer deßen Ignoranz gegenüber diesen Zwischenräumen ("Interstices") auf, füllt sie mit Leben, bildet sie ab auf... Musik?
Von seiner eigenen Erfahrung ausgehend - auf die Frage "Bist Du gay?" antwortet er gerne "Ich bin nicht lesbisch!" - fordert er auf, zu hinterfragen, was keiner in Frage stellt. Er selbst beschäftigt sich hauptsächlich mit Geschlechtlichkeit, Sexualität und allen möglichen Transformationen: Wo ist der Unterschied zwischen Mann und Frau, der übergang? Schwarz - Weiß? "Zu gerne klammert sich der Mensch an einer Schattierung fest, die er liebgewonnen hat."
Sein elektroakustisches Werk selbst läßt sich schwer Kategorisieren, steht zwischen Musik und Kunst, Ambiente und Inhalt, schafft es aber im Gegensatz zu vielen anderen Werken, nicht nur oberflächlich zu provozieren, sondern gezielte Kritik zu vermitteln.
Thaemlitz bestreitet eine vielfach proklamierte Androgynität elektronischer Musik und somit eine allein daraus resultierende Wirkung auf die Toleranz der Gesellschaft. Er behauptet, in der Minute, in der der Künstler schweigt, würde nicht das Kunstwerk für sich selber sprechen, sondern der Inhalt von kulturellem Kontext überschrieben.
Dementsprechend gerne kommentiert er sein Werk, aber trotz des umfaßenden sprachlichen Outputs in CD-Booklets und auf seiner Homepage bleiben seine Gedanken eine Erläuterung, sind keine Erklärung, die das Werk seiner Funktion berauben würde. Im Booklet zu "Interstices" erwähnt er Brustamputationen bei zwei unterschiedlichen Menschen: Die Frau mit dem Brusttumor bestärkt der Psychologe nach der Operation in ihrer Weiblichkeit, die Tranßexuelle hingegen in ihrer Männlichkeit.
Mit diesem Beispiel stellt er die Frage, wo die Regeln der Biologie aufhören und die der Gesellschaft anfangen - einer nach dem Gesetz toleranten Gesellschaft. Durch diese Infragestellung der Biologie, die von Eßentialisten gerne als Diskußionsbasis herangezogen wird, stößt Thaemlitz also tatsächlich in eine politische Dimensionen vor - die in Zukunft auch durch Aktivitäten der Pharma- und Biotechforschung an Bedeutung gewinnen wird.
Um seine Ausführungen akustisch zu präsentieren, benutzt Thaemlitz Techniken der modernen, digitalen Musikproduktion. Techniken, die sich beim "normalen" Musiker einschleichen, vielleicht sogar Mode sind, ohne viel Beachtung geschenkt zu bekommen. Jeder Produzent kennt digitales Clipping, das die Binarität der Synthese verdeutlicht - ein Bit kann nur 1 oder 0 sein: Feinster HiFi-Klang oder totale Zerstörung des Signals, hier symbolisch für Unverständnis oder sexuelle Ekstase.
Etwas weniger avantgardistisch ist die Verwendung von Samples aus diversen musikalischen Genres, die Thaemlitz wegen seiner Anspielungen auf verschiedene Identifikationen einsetzt, z.B. Rock'n'Roll für die Homophobie der amerikanischen Gesellschaft. Die Verarbeitung ist jedoch auch hier digital: Jeder Musikhörer kennt das Geräusch einer springenden CD. Thaemlitz benutzt ähnliche Effekte, die er "Framing" und systolische Komposition nennt. Beim "Framing" werden wenige "Frames" (= Rahmen), digitale Meßpunkte des analogen Signals, in einer Schleife wiederholt und erzeugen ein unangenehmes Geräusch. Enthält dieses noch Musik? Bei der systolischen Komposition werden nur Teile von Musik hörbar, Teile von Musik-Dateien, die der Produzent vielleicht zwischen zwei Produktionen auf seiner Festplatte hin- und herschiebt, um Platz zu schaffen. Die Rhythmik geht durch Sprünge verloren, der Gesang fehlt, das Ausatmen ist wohl noch hörbar - bleibt die Seele der Musik erhalten? Was paßiert in diesem Augenblick im Kopf des Künstlers, zwischen dem alten und dem neuen Projekt? Vergleich im Begleittext mit der eigenen Erfahrung beim Auftragen von Schminke: Der Augenblick, wenn er sich nicht mehr als Mann und noch nicht als Frau fühlt.
Terre Thaemlitz setzt auf diesem Album seinen Diskurs über das Thema fort, das ihn seit seiner Kindheit beschäftigt. Er bezeichnet sich selber nicht als "gay" oder "bi", sondern als "queer" und löst sich damit von den sprachlichen Auswüchsen des Eßentialismus, der von limitierten Strukturen ausgeht. Er läßt zunächst alle Möglichkeiten zu und konfrontiert den Hörer seiner CD damit ohne erhobenen Zeigefinger, der so, durch den Begleittext sensibilisiert, aus seiner eigenen Reaktion lernen kann. Ein künstlerisches Meisterwerk gesellschaftlicher Konfrontation, unterhaltsam und schlau.
Mehr über Terre Thaemlitz, sein Leben und seine Philosophien, findet sich auf seiner lustigen Homepage www.comatonse.com.
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